Vicky
»Vicky, wie schön, dass ich dich hier treffe!«
Als meine Schwester mein Büro betrat, zuckte ich innerlich zusammen. Verunsichert sah ich zu den Akten, die vor mir auf dem Tisch lagen, in dem Versuch, möglichst geschäftig auszusehen. Vielleicht würde sie schnell wieder gehen, wenn sie glaubte, ich hätte zu tun.
Natürlich tat sie mir den Gefallen nicht und lief grinsend auf mich zu, als hätte sie gerade bei einem Gewinnspiel gewonnen. Normalerweise kam Caro nur dann in mein Büro, wenn ich etwas für sie tun sollte oder sie etwas an meiner Arbeit auszusetzen hatte.
»Lass uns heute zusammen Mittag essen.«

Ich blinzelte verwirrt. Noch nie hatte Caro mit mir die Mittagspause verbracht. Für gewöhnlich aß sie mit unserem Vater und seinen Geschäftspartnern im teuersten Restaurant der Stadt. Niemand hatte es je laut ausgesprochen, aber meine Anwesenheit war bei diesen Angelegenheiten nicht erwünscht. Meine Schwester war die Bereicherung für die Firma, nicht ich. Ich war bloß das Aktenmädchen, dem keine bedeutende Aufgabe zuzutrauen war.
»Um eins unten am Tor?« Noch immer lächelte Caro, und so langsam fragte ich mich, ob sie etwas ausheckte. Ich wusste nur nicht, was. Ein unangenehmes Kribbeln zog sich durch meinen Bauch.
Das letzte Mal hatte sie so seltsam gegrinst, als sie mir mein Büro direkt neben dem unseres Vaters weggeschnappt hatte. Mein neues befand sich am anderen Ende des Gebäudes, so weit abgeschottet, dass ich wichtige Neuigkeiten stets als Letzte erfuhr.
Aber mir war das recht. So reduzierte sich die Zahl der Menschen, denen ich täglich begegnete, auf die wenigen Kollegen, die sich mit mir den Flur teilten. Noch ein Grund, mich zu wundern, warum meine Schwester sich dazu herabgelassen hatte, mich hier zu besuchen. Sie hätte auch anrufen können.
»Okay.« Ich versuchte mich an einem Lächeln, während ich eine Akte an meine Brust presste.
»Toll, dann bis später.« Mit diesen Worten rauschte Caro aus meinem Büro.
Sobald sie aus der Tür war, widmete ich mich wieder den Ordnern vor mir, ohne wirklich bei der Sache zu sein. Die Gedanken schwirrten unermüdlich in meinem Kopf herum. War etwas passiert? Warum wollte meine Schwester unbedingt mit mir die Mittagspause verbringen? Wollte sie mit mir reden? Aber worüber? Und warum hatte sie nicht direkt in meinem Büro mit mir sprechen können? Sehr ungewöhnlich.
Wenn ich richtig darüber nachdachte … Seit Kurzem benahmen sich alle um mich herum seltsam. Erst mein Freund Anton und jetzt auch noch sie. »Ich muss mit dir reden.« Das waren seine Worte gewesen. Und er hatte sie so ernst ausgesprochen, dass ich das Schlimmste befürchtete. Seitdem ging ich ihm aus dem Weg, versuchte, jede Möglichkeit, mit ihm zu sprechen, zu umgehen und nur die nötigsten Worte auszutauschen.
Mir war klar, dass ich damit nicht ewig durchkommen würde und mich früher oder später mit ihm auseinandersetzen musste. Aber darüber konnte ich mir Gedanken machen, wenn es so weit war. Vielleicht vergaß er, worüber er mit mir sprechen wollte, wenn nur etwas Zeit verstrich. Vielleicht aber auch nicht.
Mit einem Seufzen griff ich nach einer weiteren Akte und stellte sie in den Schrank hinter mir. Mein ganzes Büro war voll von ihnen, als diente es als Abstellraum der anderen. Immer wieder kamen Kollegen zu mir und legten sie wie selbstverständlich auf den Tischen ab, damit ich mich darum kümmerte, sie sortierte und aufbewahrte.
Ich beschwerte mich nicht, denn viel Arbeit hatte ich ohnehin nicht. Zumindest konnte ich beim Sortieren der Akten nichts falsch machen.
Gerade war ich dabei, drei Ordner auf meinen Armen zu balancieren, als die Bürotür wieder aufging. Vor Schreck taumelte ich einen Schritt nach hinten, sodass die Ordner aus der Balance gerieten. Bevor ich sie daran hindern konnte, rutschten die oberen zwei auch schon zur Seite und fielen zu Boden.
Fluchend legte ich den Ordner, der sich noch in meiner Hand befand, ab und bückte mich, um die beiden heruntergefallenen aufzuheben.
Da erst erkannte ich die Person, die mein Büro betreten hatte, und sofort sprang ich wieder auf die Beine. Für einen Moment blieb mein Herz stehen.
»Papa? Was machst du hier?«
Kopfschüttelnd musterte mich mein Vater von oben bis unten. Ließ dabei seinen Blick in abschätziger Geste über den Rock wandern, der mir schief auf der Hüfte saß, und die Bluse, die ich beim Frühstück mit Kaffee bekleckert hatte, dann zu den Ordnern zu meinen Füßen. Die Enttäuschung in seinen Augen war nicht zu übersehen. Mal wieder.
Nicht zum ersten Mal sah er mich so an. Und nicht zum ersten Mal stand ich vor ihm und fühlte mich, als wäre ich es nicht wert, in diesem Büro zu stehen oder für ihn zu arbeiten. Oder von ihm jeden Monat so viel Geld überwiesen zu bekommen, obwohl ich doch nicht viel leistete. Ich war eine wandelnde Katastrophe. Ein Wunder, dass er mich noch nicht rausgeworfen hatte.
»Tut mir leid«, murmelte ich, während ich erneut in die Knie ging und die Ordner aufsammelte. Meine Wangen glühten. Welch mieses Timing!
Über mir seufzte mein Vater. »Ach, Vicky, was soll ich bloß mit dir machen?«
Seine Worte versetzten mir einen Stich in der Brust, obwohl ich wusste, dass er recht hatte. Ich war nur deshalb noch hier, weil ich seine Tochter war.
»Eigentlich bin ich zu dir gekommen, weil …«
»Vicky!«, ertönte plötzlich ein Schrei aus dem Gang, der mich sofort aufhorchen ließ.
Mit vor Überraschung aufgerissenen Augen und einer Falte auf der Stirn drehte sich mein Vater nach der Person um, die ihn so wirsch unterbrochen hatte. In diesem Moment kam meine Kollegin Hannah ins Büro gestürmt.
Gerade wollte sie an ihrem Chef vorbei- und auf mich zulaufen, als sie ihn erkannte und mitten in der Bewegung innehielt.
»O Gott, tut mir leid, Herr Maas. Ich wusste nicht, dass Sie hier sind.« Mit einem entschuldigenden Lächeln bewegte sich meine Kollegin rückwärts aus dem Büro. »Ich komme einfach später wieder.«
Mein Vater schüttelte den Kopf, doch die Falte auf seiner Stirn hatte sich geglättet. Langsam kam er auf mich zu und bedeutete mir, mich zu setzen.
Wie betäubt sank ich auf meinen Bürostuhl. Was wollte er? Würde er mich rausschmeißen? Es würde mich nicht wundern. Nicht nach allem, was ich mir bisher geleistet hatte. Vor einem Jahr hatte ich den Verkauf eines wichtigen Produkts vermasselt. Damals war ich so nervös gewesen, dass ich vergessen hatte, die Produkte rechtzeitig zum Launch zu bestellen. Damit hatte ich mich vor einem unserer umsatzstärksten Kunden blamiert und damit die gesamte Kampagne gefährdet. Das war der Grund, warum ich in diesem Büro saß und mir mein Vater nichts mehr zutraute. Oder sonst jemand in der Firma. Die Erinnerung zog einen tiefen Schmerz in meine Brust. Es war meine eigene Schuld, und das machte es nur noch schlimmer.
»Du weißt, dass wir gerade an einer Kampagne arbeiten, um den neuen Rasierer zu vermarkten.«
Mein Herzschlag nahm bei seinen Worten zu, bis er wie wild in meiner Brust hämmerte. Ich wischte mir die schwitzigen Hände an meinem Rock ab. Die Rasiererkampagne. Daran erinnerte ich mich. Und auch daran, dass Hannah und ich vor ein paar Tagen darüber gesprochen hatten …
»Julia aus der Marketingabteilung kennst du sicher? Sie hat heute Morgen in unserem Meeting einen vielversprechenden Vorschlag vorgebracht. Doch sie meinte, er käme nicht von ihr.«
Nein, das konnte nicht sein. Bitte nicht. Warum hatte sie das getan? Mir rutschte das Herz in die Hose.
»Sie sagte, der Vorschlag sei von dir gewesen.«
Ich brachte kein Wort heraus. Mein Hals fühlte sich auf einmal so trocken an, dass ich nur ein Krächzen hervorgebracht hätte, wäre ich imstande gewesen, meine Lippen zu öffnen.
»Stimmt das?«
Noch immer war der Blick meines Vaters erwartungsvoll auf mich gerichtet, vielleicht sogar etwas stolz? Nein, das musste ich mir eingebildet haben. Doch zum ersten Mal seit Langem war die Enttäuschung aus seinen Augen verschwunden. Nun lag eine Wärme darin, die mich innehalten ließ. Wie lange hatte ich darauf gehofft, dass er mich mal wieder so ansehen würde. Und doch fühlte sich der Moment nicht wie ein Sieg an, denn in meinem Inneren kämpften Freude und Unsicherheit um die Oberhand.
Ja, es war meine Idee gewesen. Ich hatte mit Hannah darüber gesprochen, als wir unsere Mittagspause zusammen in meinem Büro verbracht hatten. Ich erinnerte mich genau an den Moment, als ich mir einen ihrer Kekse in den Mund geschoben und ihr erzählt hatte, dass mir für das neue Produkt eine lustige Idee gekommen war.
Aber genau das war sie gewesen. Lustig. Sie war nicht ernst gemeint gewesen. Und schon gar nichts, was ich Julia vorgeschlagen hätte. Hannah hatte das offensichtlich anders gesehen. Ich hatte sie gebeten, niemandem etwas zu verraten, aber das war ihr egal gewesen.
Ich schluckte.
Was sagte ich meinem Vater? Zu lügen wäre wohl keine gute Idee. Ich würde Julia und Hannah damit schlecht dastehen lassen, dabei hatten sie mir sicher nur helfen wollen. Doch ich brauchte die Aufmerksamkeit nicht, ich blieb lieber im Schatten der anderen.
Zuzugeben, dass die Idee von mir war, hieße allerdings, dass ich … Ja, was? Damals hatte mein Vater mir sehr deutlich gemacht, dass er keine Vorschläge mehr von mir hören wollte. Damals, als ich alles versaut hatte. Weil ich ihren gesamten Zeitplan mit meiner dämlichen Unsicherheit durcheinandergebracht und beinahe den Verkauf des Produkts gefährdet hatte.
»Ach, die Idee ist nichts Besonderes. Hannah und ich haben uns das zusammen überlegt. Ich hatte eigentlich nicht viel damit zu tun …«
»Bei Julia klang das aber anders.«
»Julia übertreibt bestimmt. Genau wie Hannah.« Ich hob die Mundwinkel, als wollte ich lächeln, obwohl mir nicht danach zumute war. Ganz im Gegenteil, am liebsten wäre ich direkt aus dem Raum gestürmt. Ich wollte dieses Gespräch nicht führen. In Gedanken verfluchte ich Hannah für ihre etwas zu freundliche Art, mit der sie mir wohl einen Gefallen hatte tun wollen.
Seit ich zur einfachen Büroarbeit verbannt worden war, versuchte Hannah, mich wieder in meine ursprüngliche Position als Marketingmanagerin zu bringen. Sie meinte, ich sei hier nicht richtig. Ich sei mehr wert.
Aber war es nicht meine Entscheidung, was ich wert war, und vor allem, wo ich arbeiten wollte?
»Versteh mich nicht falsch, Vicky. Ich weiß, dass wir nicht den besten Start hatten. Aber ich wäre bereit, dir noch eine Chance zu geben. Wenn du das möchtest.«
Nein! Das ist das Letzte, was ich will. Allein bei dem Gedanken daran stellten sich mir die Nackenhaare auf.
Aber wie sollte ich meinem Vater das sagen, der sich alle Mühe gegeben hatte, aus mir eine erfolgreiche junge Frau zu machen? Der mich immer mit dieser Mischung aus Enttäuschung und Mitleid betrachtete, wenn ich ihm zufällig auf dem Gang begegnete. Ich konnte es nicht ertragen, ihn schon wieder zu enttäuschen, indem ich alles vermasselte. Lieber blieb ich unauffällig und tat damit zumindest niemandem weh. Mein Herz krampfte sich schmerzhaft zusammen, doch ich versuchte, ruhig zu atmen.
»Okay.«
»Das heißt, du bist bereit, deine Idee vorzustellen?«
Nein.
»Ich … ich habe hier so viel zu tun, vielleicht kann jemand die Präsentation für mich übernehmen und ich …« Ich schluckte. Mein Hals war noch immer ungewohnt trocken. Warum konnte ich nicht einfach Nein sagen?
»Du hast noch etwas Zeit. Vielleicht vier Wochen? Dann kannst du jemanden finden, der deine Aufgaben übernimmt, und dich auf den Vortrag vorbereiten.« Sein Lächeln war so hoffnungsvoll, dass ich nur nicken konnte. Auch wenn ich in Gedanken schon nach Möglichkeiten suchte, wie ich aus dieser Geschichte wieder herauskam.
Bevor ich noch etwas erwidern konnte, war mein Vater bereits aufgestanden und bewegte sich in Richtung Tür. Eine Million Dinge lagen mir auf der Zunge, aber ich presste nur die Lippen zusammen und blickte ihm hinterher, während er den Raum verließ.
Sobald er gegangen war, stürmte Hannah in mein Büro, als hätte sie vor der Tür gestanden und darauf gewartet, dass er hindurchtrat.
»Er hat es dir gesagt, oder?« Hannah war offenbar so aufgeregt, dass sie kurz davor stand, auf und ab zu hüpfen. Hektisch wedelte sie mit den Händen und immer wieder wippte sie auf den Zehenspitzen, wobei ihr knielanger Rock hin und her wehte.
Leider teilte ich ihre Begeisterung nicht. Am liebsten wäre ich nach Hause gelaufen, hätte mich auf mein Bett geschmissen und wäre erst dann wieder zur Arbeit gekommen, wenn alle vergessen hatten, was passiert war.
Mit einem tiefen Seufzen lehnte ich mich gegen meinen Schreibtisch. »Musstest du Julia davon erzählen?« Es tat mir leid, Hannahs Euphorie zu bremsen, aber ich fühlte mich gerade nicht danach, mit ihr im Kreis zu tanzen.
»Ich dachte, du würdest dich freuen.« Enttäuscht ließ sie die Hände sinken und setzte sich neben mich auf meinen Schreibtisch. Sichtlich besorgt schob sie die Augenbrauen zusammen und musterte mich.
»Ich … Natürlich freue ich mich.« Das war eine Lüge, aber ich konnte ihren traurigen Blick nicht länger ertragen. Dabei zogen sich meine Eingeweide allein bei dem Gedanken daran zusammen, als wollte jemand sie zerquetschen. »Es ist nur … Ich glaube nicht, dass ich das schaffe.«
»Dass du was nicht schaffst?«
»Mein Vater sagte, ich solle den Vorschlag präsentieren. Vor allen.«
»Das ist eine tolle Idee. Also was ist das Problem?«
»Ich kann das nicht.« Nervös spielten meine Finger mit einem Stift, der auf dem Tisch lag. Ich wich dem Blick meiner Kollegin aus.
»Du machst dir Sorgen wegen damals, oder?«
Entschieden schüttelte ich den Kopf, obwohl allein ihre Worte dafür sorgten, dass mein Puls an Tempo gewann. »Das ist es nicht. Ich … ich bin zufrieden damit, hier die Akten zu sortieren. Ich will überhaupt nicht mehr. Diese ganze Anerkennung brauche ich nicht.«
Für einen langen Moment sah Hannah mich stumm an, die Lippen zu einer schmalen Linie zusammengepresst. Mit ihrer großen Brille und den dicken blonden Wellen, die ihr Gesicht umrahmten, wirkte sie wie meine damalige Mathelehrerin. So hatte sie mich auch immer angesehen, wenn ich mich nicht getraut hatte, eine Gleichung zu erklären.
Gerade wollte ich ihr mitteilen, warum es besser war, wenn alles so blieb, wie es war, da nahm sie mir den Stift aus der Hand. Mit einer energischen Bewegung legte sie ihn zurück auf den Schreibtisch. »Was damals passiert ist, muss sich nicht wiederholen. Du musst einfach etwas Mut fassen und nach vorn sehen. Und nein, du solltest nicht hier sitzen und Akten sortieren.«
Ich wollte protestieren, aber sie hob die Hand, um mich zum Schweigen zu bringen. »Denn du bist mehr wert als das. Du bist die cleverste Frau, die ich kenne. Du musst dich nur selbst daran erinnern.«
Ein schwaches Lächeln flog über meine Lippen, verschwand jedoch schnell wieder. »Das ist lieb von dir, aber wir wissen beide, dass es nicht ausreicht, clever zu sein.«
Hannah ließ sich nicht beirren. Stattdessen baute sie sich vor mir auf und begann mit einer ihrer üblichen Moralpredigten: »Jetzt hör mal, Vicky, du weißt genau, dass ich es hasse, wenn du dich von deiner Schwester unterbuttern lässt. Das hast du schon damals getan, als sie dir dein Büro geklaut hat. Du hast dich nicht einmal beschwert.«
Verzweifelt öffnete ich den Mund, um etwas einzuwerfen, doch sie brachte mich mit einer Handbewegung zum Schweigen und fuhr fort: »Das ist die Chance, dir deinen alten Posten zurückzuholen und Caro ein für alle Mal zu beweisen, was in dir steckt! Wo ist dein Kampfgeist?«
Resigniert senkte ich den Blick und ließ meine Füße hin und her schaukeln. »Meine Schwester hat damit doch nichts zu tun.«
»Ach ja? Warum kam sie dann vorhin über das ganze Gesicht strahlend aus deinem Büro, als hätte sie schon wieder etwas angestellt?« Hannah stemmte die Hände in die Hüften, dabei verdrehte sie alle Tatsachen.
Warum musste sie jetzt auch noch Caro da mit reinziehen? Hannah verstand nicht, dass ich keinen Streit provozieren wollte. Und vor allem wollte sie nicht einsehen, dass ich mein Leben gut fand, wie es war. Unaufgeregt, ruhig und entspannt. Was war daran auszusetzen?
Entschlossen schüttelte ich den Kopf. »Völlig egal, was Caro denkt oder nicht, ich werde diesen Vortrag nicht halten. Ich brauche keine Chance, denn ich bin zufrieden mit dem, was ich habe.«
Hannah seufzte. »Wie du willst, aber beschwer dich am Ende nicht, weil du in diesem Büro vergammelst.« Sie schenkte mir einen letzten prüfenden Blick, doch ich sagte nichts weiter dazu, also stand sie auf und strich sich über den Rock. »Machen wir um eins Pause?«
»Meine Schwester will heute mit mir essen gehen.« Entschuldigend verzog ich das Gesicht und hob die Hände. »Sie hat mich vorhin völlig überfahren.«
»Echt?« Hannah runzelte die Stirn. »Sie will sicher mit dir über diese Sache sprechen.«
Darüber hatte ich noch gar nicht nachgedacht. Aber das würde ihr Verhalten erklären. Wahrscheinlich würde sie mir ausreden, dass ich den Vortrag hielt. Das spielte mir jedoch nur in die Karten. Sie würde sicher einen Grund finden, warum ich ungeeignet für den Job war.
»Ach ja, bevor ich es vergesse: Hast du Lust, heute Abend mit zu der Party einer Freundin zu kommen?«
Eine Party? Heute? Mein Herz flatterte in meiner Brust. So hatte ich mir meinen Feierabend nicht vorgestellt. Mein Plan war es gewesen, mich mit einem Buch auf mein Bett zu legen und vielleicht zum Einschlafen eine Serie zu gucken. Noch einmal rauszugehen, hatte ich nicht vorgehabt.
Hannah sah mir wohl an, dass ich fieberhaft nach einer Ausrede suchte, denn sie fügte rasch hinzu: »Es ist Freitagabend, Vicky. Und ich weiß, dass du nichts vorhast. Also sieh es als rhetorische Frage.« Damit verschwand sie aus meinem Büro, bevor ich noch etwas erwidern konnte.
Na toll. Wie sollte ich aus dieser Geschichte bloß wieder herauskommen?
Caro hatte sich ein schickes Restaurant im Stadtzentrum für unsere Mittagspause ausgesucht. Die Firma war gerade einmal fünf Minuten entfernt, sodass wir pünktlich wieder bei der Arbeit sein würden.
Lächelnd schob sie sich eine Gabel voller Salatblätter in den Mund. In Restaurants aß Caro immer einen Salat. Vor ein paar Jahren hatte ich sie nach dem Grund gefragt, aber sie hatte nur mit den Schultern gezuckt und gesagt, er würde ihr am besten schmecken.
»Das Essen ist lecker«, versuchte ich, das Gespräch auf Belanglosigkeiten zu lenken, bevor sie mit ihrem Anliegen herausrückte. Innerlich wappnete ich mich für alles. Schon lange hatte ich es aufgegeben, auch nur zu versuchen, meine Schwester einzuschätzen. In der Grundschule hatten wir noch gemeinsame Interessen gehabt, aber sobald wir aufs Gymnasium gegangen waren, hatte sie keine Freundin mehr in mir gesehen, sondern nur noch eine Rivalin. Bis heute wusste ich nicht, warum.
Skeptisch beäugte Caro die Lasagne vor mir, während sie ein paar Salatblätter mit ihrer Gabel aufspießte.
Sofort bereute ich, das Nudelgericht bestellt zu haben. Reichte es nicht, dass meine Schwester stilvoller, professioneller und unbekleckert aussah? Nein, ich musste auch noch bei jedem Bissen versuchen, möglichst wenig Spritzer auf meiner weißen Bluse zu hinterlassen, um nicht wie ein Kleinkind auszusehen. Der Kaffeefleck vom Frühstück war demütigend genug. Vielleicht war das der Grund, warum Caro immer Salat bestellte. Auf diese Weise umging sie rote Spritzer auf ihrem makellosen Oberteil.
Den Gedanken verwarf ich schnell wieder. Als ob meine Schwester nicht wusste, wie man in der Öffentlichkeit Lasagne aß. Sie würde die Tomatensoße bestimmt genauso grazil auf ihrer Gabel drapieren wie die Salatblätter. Und wenn ich andersherum einen Salat gewählt hätte, hätte ich mir wohl das halbe Dressing über den Schoß gekippt.
»Papa hat bestimmt schon mit dir gesprochen, richtig?«
Mitten in der Bewegung hielt ich inne und ließ die volle Gabel einen Moment vor meinem Mund in der Luft hängen. Schnell senkte ich die Hand wieder.
»Ja, hat er.« Ich stocherte mit dem Besteck im Essen herum und konzentrierte mich darauf, den Käse zu zerteilen, um meiner Schwester nicht ins Gesicht sehen zu müssen.
»Und, was sagst du zu seinem Vorschlag?« Sie machte sich nicht einmal die Mühe, den Sarkasmus zu verstecken, mit dem sie das letzte Wort aussprach. Dieses Verhalten war ich von ihr bereits gewohnt, und doch versetzte es mir einen Stich.
Möglichst unbeeindruckt zuckte ich mit den Schultern. »Ich weiß nicht.«
»Keine Ahnung, warum Papa so viel Vertrauen in dich hat.«
Obwohl ich wusste, was sie meinte, schmerzten die Worte. In diesem Moment fühlte ich mich wie eines der Salatblätter, die sie mit der Gabel ungerührt durchlöcherte. Als wäre es mein Herz, das von dem Metall zerfleddert wurde. Dabei hatte ich mir geschworen, ihr nie wieder so eine Macht über mich zu geben. Allerdings war sie meine Schwester, ich würde vermutlich ewig unserer gemeinsamen Kindheit nachtrauern. Der Zeit, als wir noch eins gewesen waren. Bevor ihre Konkurrenzbesessenheit unsere Beziehung zerstört hatte.
»Weißt du, was ich vorschlagen würde?«
Erwartungsvoll richtete ich den Blick auf sie und hob einen Mundwinkel, ohne etwas anderes als Kälte in meinem Herzen zu spüren. Es war mir egal, was sie vorschlug, Hauptsache, ich war aus dem Schneider.
»Ich schlage vor, dass du mir alles sagst, was du dir überlegt hast, und dann präsentiere ich den Vorschlag für dich. Ich weiß doch, wie ungern du so was machst. Schließlich geht es um das Wohl der Firma und ein souveränes Auftreten vor dem Kunden. Deine Idee allein reicht da nicht.«
Beinahe hätte ich erleichtert aufgeatmet. Sie hatte ja keine Ahnung, welche Last sie mir damit von den Schultern nahm. Allerdings war da auch ein übler Beigeschmack, der sich trocken auf meine Zunge legte. Hannah hätte mir wohl am liebsten einen Klaps auf den Hinterkopf verpasst, wenn sie mich so gesehen hätte. Und irgendwo empfand ich das Verhalten meiner Schwester auch als falsch. Doch meine Angst vor der Präsentation war größer.
»Du bist ohnehin viel besser in diesen Dingen«, hörte ich mich sagen und zwang mich zu einem Lächeln. Allein der Gedanke daran, meinen Vater zu enttäuschen, ließ mein Herz kurz stolpern, aber Caro würde es ihm sicher so gut verkaufen, dass er sich nicht sorgen würde. Sie würde alles übernehmen und die Vorzeigetochter mimen, die sie immer hatte sein wollen. Ihr war all das wichtig, nicht mir. Deshalb überließ ich ihr gern die Bühne. Zumindest redete ich mir das ein.
»Ganz genau.«
Caro sah auf ihr Handy, das neben ihrem Teller auf dem Tisch lag – wahrscheinlich, um die Uhrzeit zu prüfen. Sie konnte es wohl kaum erwarten, unserem Vater die Neuigkeit zu verkünden. Wieder war da dieser schale Geschmack in meinem Mund. Doch nun war es zu spät für einen Rückzieher, also schluckte ich kräftig.
Sollte sie doch direkt zu ihm rennen. Mir tat sie damit nur einen Gefallen.
»Wie läuft es eigentlich mit Anton?«, wechselte Caro schlagartig das Thema.
Vor Schreck verschluckte ich mich an der Lasagne, die ich mir gerade in den Mund geschoben hatte. Wild hustend griff ich nach meiner Serviette. »Gut.« Ich wischte mir über den Mund und wich Caros bohrendem Blick aus, hoffend, dass sie mir nicht anmerkte, wie mir Hitze ins Gesicht schoss.
»Gut?« Kam es mir nur so vor, oder zuckten ihre Mundwinkel für einen Moment nach oben? Caro wusste nicht, dass es zwischen Anton und mir schon seit einiger Zeit alles andere als gut lief. Und das würde ich sicher nicht ändern.
»Dann wusstest du sicher schon, dass er demnächst bei uns anfangen wird.«
»Was?« Entsetzt ließ ich meine Serviette sinken.
Caro lächelte. So, wie sie damals gelächelt hatte, als sie mir eröffnet hatte, dass ich das Büro wechseln würde. So hinterlistig, wie ich sie damals nicht gekannt hatte. Aber ich musste mich wohl damit abfinden, dass sie sich verändert hatte.
»Vielleicht wollte er dich damit überraschen. Er wird in meiner Abteilung arbeiten. Letztens war er sogar da, um mit Papa zu sprechen.«
Er war bei uns in der Firma gewesen? Und mir hatte er nichts davon gesagt? War es das, worüber er mit mir sprechen wollte? Ich bekam meinen hämmernden Herzschlag – und all die Gefühle, die in mir tobten – nicht mehr unter Kontrolle. Schnell faltete ich die Hände in meinem Schoß, damit meine Schwester nicht bemerkte, wie sie vor Anspannung zitterten. Was ging hier vor sich? Warum erzählte sie mir das alles?
Wollte er gar nicht mit mir darüber sprechen, dass wir …
»Heute ist er übrigens auch da.«
Hörbar schnappte ich nach Luft. Warum sah Caro so aus, als würde mein Entsetzen sie wahnsinnig amüsieren? Sie war meine Schwester, sollte sie nicht auf meiner Seite sein?
Nein, Vicky, sie ist schon lange nicht mehr auf deiner Seite, sieh es endlich ein. Du bist ihre Rivalin, wer auch immer ihr diese Flausen in den Kopf gesetzt hat, spottete eine Stimme tief in mir.
»Heute?«
Caro nickte. Dann drehte sie sich um, als würde sie nach jemandem suchen. Ich folgte ihrem Blick.
Genau in diesem Moment betrat er das Restaurant. Anton. Mein Freund.
Und doch war die Frau, die er anlächelte, nicht ich, sondern Caro. Mir schenkte er bloß einen kalten Blick, der mein Herz gefrieren ließ. Wenn mein Puls zuvor rekordverdächtig schnell gewesen war, schien er nun für einen Augenblick auszusetzen. Mir stockte der Atem und auf einmal war mir übel. Ich hätte die Lasagne nicht essen sollen. Ich hätte nicht mit Caro herkommen sollen. Ich hätte mein verdammtes Büro nicht verlassen sollen.
Aber es war zu spät, denn Anton kam bereits auf uns zu und Caro grinste mich an, als hätte sie all das geplant.
Enrico
Die Art, wie Mario die Mundwinkel hob und mich von der Seite ansah, verriet mir, dass er nichts Gutes im Schilde führte.
Er brachte das Weinglas an seine Lippen und sah einer Gruppe Blondinen hinterher, die lachend an unserem Tisch vorbeiliefen. Touristen. Das erkannte ich sofort. Es war die Art, wie sie sich kleideten, wie sie ihre Blicke über das türkisfarbene Wasser hinter der Promenade gleiten ließen, als würden sie so etwas nicht jeden Tag zu Gesicht bekommen.
Auch ich hatte einmal so ausgesehen, hatte die Landschaft und das Leben hier in der Dominikanischen Republik bewundert. Mittlerweile war es mein Alltag. Jeden Morgen wachte ich mit einer Kulisse vor meinem Fenster auf, die ich damals nur von Reiseführern oder aus der Werbung gekannt hatte. Nie hätte ich gedacht, dass ich eines Tages hier leben würde. Doch heute war es meine düstere Realität, und leider war dieser Ort so sehr von enttäuschenden Erinnerungen verseucht, dass ich die Sicht aufs Meer schon lange nicht mehr genießen konnte.
»Erlaubt dir Cleo, die Frauen so anzusehen?« Ich warf meinem Bruder einen gespielt strengen Blick zu, während ich einen Zuckerwürfel in meinem Kaffee verschwinden ließ.
Mario lachte und drehte das Glas in seiner Hand. »Sie weiß, dass sie die Einzige für mich ist.«
»Wenn du das sagst.«
»Aber gut, dass du davon sprichst.« Er beugte sich zu mir vor und das amüsierte Funkeln in seinen Augen gefiel mir ganz und gar nicht. »Seit wir wieder miteinander reden, habe ich dich mit keiner einzigen Frau gesehen. Was ist los mit dir?«
Meine Eingeweide zogen sich zusammen. Ich hatte geahnt, dass er das eines Tages ansprechen würde. Und doch hatte ich gehofft, dieses Gespräch aufschieben zu können.
»Im Gegensatz zu dir dreht sich in meinem Leben nicht alles um Frauen«, erwiderte ich ruhig, während ich mich in meinem Sitz zurücklehnte und einen Schluck meines frischen Kaffees trank. Angenehm strömte mir der heiße Dampf in die Nase und der bittere Geschmack legte sich auf meine Zunge.
Mario hatte ein hübsches Café ausgesucht, um sich mit mir zu treffen. Es lag ein wenig abgelegen und bot einen einzigartigen Blick auf das Meer – am Abend war die Aussicht perfekt, um Sonnenuntergänge zu beobachten. Ich selbst kam regelmäßig in meiner Mittagspause her, vor allem deshalb, weil es keine zehn Minuten vom Flugplatz entfernt war. Mein Bruder dagegen wirkte in meinen Augen etwas fehl am Platz mit seinem weißen Hemd, der losen Krawatte und dem Weinglas zwischen den Fingern.
»Jaja, in deinem Leben dreht sich alles ums Fliegen. Das weiß ich. Aber hey, du kannst offen mit mir reden. Gibt es nicht die eine oder andere … Kundin, die dir für einen Flug etwas anderes bietet als ein paar Geldscheine?« Er zwinkerte mir zu und brachte mich damit zum Schmunzeln.
»Die gibt es tatsächlich.«
Marios Augenbrauen schossen nach oben.
»Aber diesen Frauen sage ich, dass ich ihre Angebote leider nicht annehmen kann.« Als mein Bruder die Augen verdrehte, schüttelte ich mit einem leisen Lachen den Kopf.
»Warum nicht?« Er hatte sich wieder zurückgelehnt und schwenkte das Weinglas in seiner Hand.
»Ich bin nicht du.«
Seine Mundwinkel zuckten. »Du hast keine Frau, keine Freundin, du kannst tun und lassen, was du willst. Was spricht dagegen, ein bisschen Spaß mit einer Touristin zu haben? Die meisten sind nicht lange genug da, um irgendjemandem davon zu erzählen, falls du dir darum Gedanken machst.«
Wieder schüttelte ich den Kopf. »Ich bin nicht der Typ dafür.«
»Wann hattest du das letzte Mal Sex?«
»Ach bitte, als Nächstes fragst du, ob ich mir einen runterhole. Du bist mein Bruder, aber ich bin alt genug, um zu wissen, was ich tue.«
Mario stellte sein Weinglas auf dem Holztisch ab, kniff die Augen zu Schlitzen zusammen und musterte mich forschend. Sein Blick machte mich nervös, aber ich versuchte, es mir nicht anmerken zu lassen.
Mehrfach hatte ich Cleo schon darüber schimpfen gehört, dass er so viel trank. Aber er hatte sich jedes Mal grinsend nachgegossen, als würde es ihm Spaß machen, sie zu verärgern.
Nachdem wir bestellt hatten, hatte ich ihn darauf angesprochen, dass er sich um zwölf Uhr mittags einen Rotwein bestellte, aber er hatte nur gelacht. »Wir sind in der Karibik, Enrico. Wen interessiert es, wann ich wo was trinke?«
Dagegen hatte ich nichts sagen können. Zumal ich gern selbst zum Glas gegriffen hätte, wenn ich nicht am Abend noch hätte fliegen müssen. Es gab da so einige Dinge, die ich mir nur zu gern aus dem Kopf getrunken hätte, aber angetrunken zu fliegen, kam für mich nicht infrage.
»Es ist wegen ihr, oder?«
Marios Frage erwischte mich unvorbereitet. Innerlich zuckte ich zusammen und verzog kurz das Gesicht. Schnell setzte ich wieder meine neutrale Miene auf, doch zu spät. Er hatte meine Reaktion bereits bemerkt.
»Ist das dein Ernst, Enrico?«
Genervt stöhnte ich auf, doch in meinem Inneren brodelte es, als würde Lava durch meine Adern fließen. Sofort strömten die Erinnerungen auf mich ein. Wie ich es hasste, an dieses Thema erinnert zu werden, über sie nachzudenken. Sie und mich und all die Dinge, die wir nie würden haben können. »Ich will nicht darüber reden.«
»O doch, das wirst du.« Sein scharfer Blick lag immer noch auf mir. Den Wein schien er vergessen zu haben, sein gesamter Fokus galt mir. »Spuck’s schon aus.«
»Da gibt es absolut nichts zu erzählen.« Ich biss mir in die Wange, um die Emotionen zurückzudrängen, die schon wieder in mir hochkochten. Es sollte nicht so sein. Nicht nach all der Zeit. Und doch konnte ich nichts dagegen tun. Sie klemmte irgendwo in meinem Kopf und vor allem in meinem Herzen fest und ich kam nicht von ihr los.
»Du liebst sie immer noch?«
Ich verlor den Kampf gegen seinen Blick und sah zur Seite.
»Ernsthaft? Nach all der Zeit? Und die Leute sagen über mich, ich sei nachtragend. Was war so toll an ihr? Sie war nur irgendeine Frau, oder nicht?«
Meine Kiefermuskeln zuckten vor Wut. Ich wusste, wie irrational ich mich verhielt, aber er hatte keine Ahnung, wovon er sprach. »Sie ist nicht irgendeine Frau!«, fuhr ich ihn an. »Sie ist die Einzige, die … Ach, du verstehst das eh nicht.« Ich biss die Zähne fest aufeinander und stellte meine Kaffeetasse mit so viel Schwung zurück auf den Untersetzer, dass die dunkle Flüssigkeit darin über den Rand schwappte.
Ungerührt musterte Mario mich. Er fuhr sich über das Kinn, als würde er über etwas nachdenken. »Sie wohnt noch hier, nicht wahr?«
Ich nickte, ohne ihn anzusehen, während in meinem Kopf Bilder auftauchten. Monica, wie sie unter der karibischen Sonne auf einem Handtuch lag, ein Buch in der Hand und einen Sonnenhut auf dem Kopf. Ein paar Strähnen ihres blonden Haares wehten ihr in die Augen, doch sie machte sich nicht die Mühe, sie zu bändigen. Sie wirkte so friedlich, so zufrieden. Nur leider war sie nicht allein.
»Hat sie einen Freund?«
»Sie ist verheiratet.«
Mein Bruder pfiff durch die Zähne. »Ich könnte ihn verschwinden lassen, wenn du das möchtest.«
»Das würde keinen Unterschied machen.«
»Wer weiß. Vielleicht wäre sie so verzweifelt, dass …«
»Sie hat mir sehr deutlich gezeigt, dass sie mich nicht mehr will. Und das ist okay. Ich komme klar. Ich will keine Frau, die nicht aus freien Stücken bei mir sein möchte.«
Provokant neigte Mario den Kopf, als wartete er auf eine Erklärung. Doch die würde ich ihm sicher nicht geben. Am liebsten wäre ich aufgestanden und gegangen. Aber er war mein Bruder, er würde nicht lockerlassen. Leider war das seit unserer Kindheit eine seiner herausragendsten Eigenschaften.
»Was ist mit der Kleinen von eurem Flugplatz? Sie mag dich.«
Ich seufzte. »Vea ist nicht mein Typ.«
»Wer sagt, dass sie dein Typ sein muss? Sie ist heiß, das reicht. Lad sie auf einen Cocktail ein, nimm sie mit nach Hause und vögele sie, bis du Monica vergessen hast.«
»Das ist es, was du tun würdest?« Herausfordernd hob ich die Augenbrauen.
Mario seufzte und nippte an seinem Glas. »Du hast neunzehn Jahre gewartet, Enrico. Es ist Zeit, weiterzumachen. Lass sie endlich hinter dir.«
Wenn das bloß so einfach wäre. Ich ließ meinen Blick zurück zum Meer wandern, das tief unter uns gegen die Steinwand schlug. Und in diesem Moment fühlte ich mich wie eine der Wellen, die an den Felsen zerschellte. Damals war etwas in mir zerbrochen und wenn ich ehrlich zu mir war, hatte ich es nie geschafft, den Teil zu reparieren.
»Ich weiß, dass es meine Schuld ist«, sagte Mario plötzlich.
Überrascht blickte ich auf und sah meinen Bruder verwundert an. Der trank einen Schluck Wein und fixierte mich dann mit fester Miene.
»Ja, es ist meine Schuld, dass das zwischen euch zerbrochen ist. Aber lass mich nicht schuld sein, dass du daran zerbrichst.« Seine Stimme war ernst und doch spürte ich die Wärme in jedem seiner Worte. Er erinnerte mich ein wenig an den kleinen Jungen von damals. Auch da hatte er sich immer Sorgen um mich gemacht. Er hatte es gehasst, dass ich ohne ihn nach Deutschland gegangen war. Wer weiß, was passiert wäre, wenn ich Spanien nie verlassen hätte. Sicher würden wir beide heute nicht hier sitzen.
»Mach dir um mich keine Sorgen.« Die Erinnerungen, die Mario losgetreten hatte, rissen ein Loch in mein Herz. Ich versuchte mich an einem Lachen, obwohl mir eher zum Schreien zumute war.
Das Schlimmste war jedoch, dass er recht hatte. Es war seine Schuld. Und seit er zurück in meinem Leben war, versuchte ich, ihm zu verzeihen, was er getan hatte. Ich wusste, dass ich das sollte, und niemals hätte ich es vor ihm zugegeben, aber es fiel mir so verdammt schwer. Immer wenn ich ihn ansah, musste ich an damals denken, und jedes Mal drehte sich mir erneut der Magen um. Ich konnte nur hoffen, dass sich all diese Wut und all der Schmerz in mir eines Tages legen würden.
»Und mach dir keine Sorgen wegen der Sache. Du weißt, dass ich das schon lange vergessen habe.«
Die Furche auf seiner Stirn blieb, aber er fragte nicht weiter. Und ich war froh darüber. Davon zu sprechen, machte es nicht leichter, es sorgte nur dafür, dass mich die Erinnerungen wieder von innen zerfraßen.
»Weißt du noch damals in Hannover?« Marios Grinsen war zurück, als wäre es nie weg gewesen. Er lehnte sich in dem Holzstuhl zurück und trank einen Schluck Wein. »Als ich dieses Mädchen abgeschleppt habe. Wie war noch ihr Name? Lara? Ach nein, Lena.«
»Die werde ich nie vergessen. Sie hat mein Flugzeug kaputt gemacht.« Ich versuchte, ernst zu bleiben, aber als ich Marios amüsierten Blick auffing, musste ich lachen.
»Ich wusste nicht, dass es auf dem Küchentisch lag. Und, na ja, Lenas Hintern war schon verdammt groß.«
Wir brachen beide in Gelächter aus.
In Gedanken sah ich die beiden vor mir: Mario war gerade dabei, ihr das Oberteil auszuziehen, als ich in unsere Wohnung kam und den Flieger unter ihrem Hintern erkannte. Damals konnte ich nicht darüber lachen, denn ich hatte monatelang für das teure Modellflugzeug gespart. Aber wenn ich heute daran dachte, kam mir die Situation wahnsinnig grotesk vor.
Das alles schien so weit weg. Als läge ein ganzes Leben zwischen damals und heute. Und doch brannten sich die negativen Erinnerungen noch immer in mein Gedächtnis.
Ich war gerade einmal siebzehn gewesen, als ich nach Deutschland gekommen war. So viele Pläne hatte ich gehabt, als ich Spanien verlassen hatte. Und dann war alles anders gekommen. Ich hatte Monica kennengelernt und mich verliebt. Zweimal. Einmal in die schönste Frau, die ich je gesehen hatte. Und außerdem in das, was heute mein Beruf war. Mein Beruf, meine Leidenschaft und alles, was ich je gewollt hatte. Das Fliegen.
Als ich auf den Flugplatz kam, war Joshua gerade dabei, seine Maschine abflugbereit zu machen. Er hob die Hand zum Gruß, bevor er den Motor startete und seine Kopfhörer aufsetzte. Neben ihm saß eine hübsche junge Frau.
Ich erkannte sie. Sie war gestern da gewesen und hatte einen Flug gebucht. Joshua hatte sich sofort verliebt, also hatte ich sie ihm überlassen.
Mit einem Grinsen auf den Lippen lief ich auf das Gebäude zu, das an den kleinen Tower angrenzte. Die Sonne näherte sich langsam dem Horizont. Es würde ein Sonnenuntergangsflug werden, der letzte des Tages. Um diese Uhrzeit flog ich gern. Der Anblick, wenn sich der Himmel um mich herum rot färbte, während die Sonne um ihre letzten Sonnenstrahlen rang, war jedes Mal etwas Besonderes.
Im Gebäude angekommen steuerte ich den Schulungsraum an, in dem wir alle wichtigen Unterlagen und die Gastkopfhörer aufbewahrten. Nur selten wurde der Raum tatsächlich für Schulungen genutzt, denn wir hatten schon lange keine Schüler mehr gehabt. Ein paarmal hatte ich Cleo, Marios Freundin, hier ein paar Tipps gegeben. Sie steckte gerade mitten in ihrer Ausbildung zur Berufspilotin und saugte jegliche Information über das Fliegen auf wie ein Schwamm.
Ich stellte meine Pilotentasche auf einen der Tische, öffnete den Schrank an der Wand und holte das Flugbuch des Fliegers heraus, den ich heute fliegen würde. Kurz blätterte ich darin herum und prüfte alle Angaben, dann griff ich nach zwei Paar Kopfhörern und machte mich wieder auf den Weg nach draußen.
Meine Kundschaft würde jeden Augenblick auf dem Flugplatz eintreffen.
Als ich die Tür des Schulungsraums hinter mir zuzog, kam mir Vea entgegen. Sie war unsere Fluglotsin und gab uns vom Tower aus die Abflug- und Landeerlaubnis. »Na, darfst du heute eine Runde bei Sonnenuntergang drehen?« Sie zwinkerte mir zu. »Begleitest du ein Pärchen bei einem romantischen Date, oder möchte eine Frau mehr Zeit mit dir allein verbringen?«
Ich lachte auf. »Ich lasse mich überraschen.« Grinsend hob ich die beiden Gastkopfhörer in meiner Hand an. »Vielleicht sind es auch zwei Frauen, die mehr Zeit mit mir verbringen wollen.«
Kopfschüttelnd nahm Vea sich eine Wasserflasche vom Tresen im Gang und lief zurück zur Treppe, die hoch in den Turm führte. Dabei wirbelten ihre langen schwarzen Haare hin und her und eine Strähne verhedderte sich in ihrem Headset.
Mario hatte recht, sie war hübsch. Und ich mochte sie. Sie hatte einen angenehmen Humor und ich sah sie beinahe jeden Tag auf der Arbeit. Aber etwas mit ihr anfangen? Sie war wie eine Schwester für mich. Das würde nicht funktionieren und vor allem unsere Zusammenarbeit verkomplizieren.
Gerade war ich aus dem Gebäude getreten, da kam mir schon eine aufgeregt gestikulierende blonde Frau entgegen. Auf den ersten Blick wirkte sie in ihrem kurzen weißen Kleid und mit den Sommersprossen auf der Nase recht attraktiv und es war süß, wie sie mich mit großen Augen musterte.
»Sind Sie der Pilot?«, fragte sie auf Englisch.
»Der bin ich. Sagen Sie ruhig Enrico zu mir.« Ich schenkte ihr mein charmantestes Lächeln. Darin war ich gut. Zumindest sagte mir das Joshua immer, wenn mir die Frauen nach dem Flug ihre Nummern zusteckten.
»Dann kann ich darauf vertrauen, dass Sie mich sicher wieder auf dem Boden absetzen, Enrico?« Mir entging nicht, wie sie meinen Namen betonte und mir tief in die Augen sah, während sie sprach.
»Ich werde mein Bestes geben.« Verschmitzt erwiderte ich ihr Lächeln.
Den Blick, mit dem sie mich nun musterte, kannte ich nur zu gut. So sahen mich Frauen an, die im Flugzeug versuchten, sich an mich ranzuschmeißen. Mein Magen zog sich bei dem Gedanken kurz zusammen. Solche Szenen waren in der Regel hauptsächlich unangenehm. Deshalb nahm ich mir vor, meine Flirtversuche zu drosseln. Ich wollte, dass die Frau Spaß hatte, aber nicht, dass sie sich Hoffnungen auf mehr machte.
Was spricht dagegen?, hatte Mario gefragt.
Ja, was sprach dagegen? Eine verheiratete Frau, die ich nicht vergessen konnte? Die Liebe meines Lebens, die mich nicht mehr losließ?
Ich biss mir in die Wange, um die Gedanken zu vertreiben, und reichte ihr einen der Kopfhörer. »Der Flug ist für zwei Personen gebucht, wer …«
»Ich bin die zweite Person!«, ertönte eine Männerstimme hinter meiner Kundin und ich sah auf. Der Kerl war einen Kopf größer als ich, hatte die Stirn in Falten gelegt und bedachte mich mit einem düsteren Blick. Vermutlich hatte er bemerkt, wie ich seine Freundin angeflirtet hatte.
Nein, seine Frau, korrigierte ich mich, als ich den Ring an seinem Finger sah.
Ich versuchte, die Situation mit einem Lachen zu retten. »Na super, dann können wir ja loslegen. Sind Sie schon mal geflogen?«
»Was meinen Sie, wie wir hergekommen sind?«, grummelte der Kerl, während er seiner Frau und mir aus dem Gebäude hinaus auf das Vorfeld folgte. Ich schluckte. Der Typ war eine harte Nuss. Aber auch mit solchen Kunden wurde ich fertig.
»In einem großen Urlaubsflieger, nehme ich an. Aber Sie werden sehen, das lässt sich nicht mit dem vergleichen, was Sie gleich erleben werden.«
Von der Seite warf mir die Frau immer wieder vielsagende Blicke zu und auch ihre Augenaufschläge, die wohl verführerisch wirken sollten, entgingen mir nicht. Um ihr bloß keinen Anlass zu geben, damit weiterzumachen, blickte ich starr nach vorn und ignorierte sie. Es war dumm von mir gewesen, mit ihr zu flirten. Ich konnte nur hoffen, dass dieser Flug nicht allzu unangenehm endete – und mich ihr Mann nicht auseinandernahm, sobald wir wieder am Boden waren.