Bonuskapitel

Vicky

»Wie viel Zeit haben wir noch?« Ich wischte mir mit dem Unterarm eine feuchte Strähne aus dem Gesicht, bevor ich das Backblech in die Hand nahm und zum Ofen ging. Schon jetzt roch das Gemüse verführerisch nach weihnachtlichen Gewürzen.

Enrico hielt mir den Ofen auf und warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Etwa eine halbe Stunde.«

Oh Gott! Hektisch schob ich das Blech in den bereits vorgewärmten Ofen und wischte mir die Hände an meiner Schürze ab. Genau wie Enricos war auch meine mit Weihnachtsmännern und kleinen Rentieren bedruckt und die Tasche vorn bestand aus einem Engelkopf aus Stoff.

Er hatte dieses Outfit wahnsinnig witzig gefunden, als wir vor einer Woche im Einkaufszentrum die letzten Geschenke besorgt hatten. Ich konnte über das kitschige Motiv nur den Kopf schütteln, hatte mich jedoch dazu breitschlagen lassen, die Schürze zu tragen, während wir gemeinsam das Weihnachtsessen kochten.

Aus unserem Küchenradio schallte Last Christmas, während vor dem Fenster die Sonne hinter unserem Gemüsegarten unterging. Draußen war das Wetter alles andere als weihnachtlich, im Gegenteil, es war genauso warm wie im Sommer, und doch hatten wir unser Haus so gekonnt dekoriert, dass nur unsere luftige Kleidung daran erinnerte, welche Temperaturen hier herrschten. Überall hingen Lichterketten und jede freie Fläche war mit Rentieren, Weihnachtsmännern und Schneekugeln belegt. Sogar meine Zimmerpflanzen hatten ein paar Sternchen und Glitzer abbekommen.

Meiner Meinung nach hätten wir uns bei der Dekoration ruhig etwas zurückhalten können, doch Enrico war nicht zu stoppen gewesen. Er liebte Weihnachten und da dies unsere ersten gemeinsamen Feiertage waren, sollte alles perfekt sein. Das waren seine Worte gewesen, als ich ihn darauf angesprochen hatte, dass das Treppengeländer nicht nur als Lamettahalter fungierte.

Rasch streifte ich die Küchenhandschuhe von meinen Händen und hob den Kragen der Schürze über meinen Kopf. »Ich muss noch unter die Dusche und mich fertigmachen.« Gerade wollte ich aus dem Raum stürmen, als mir etwas einfiel.

»Der Nachtisch.« Erschrocken drehte ich mich zu Enrico um. Das Herz rutschte mir in die Hose. »Ich habe den Nachtisch vergessen.«

Doch Enrico lachte nur und kam zu mir. Sanft legte er die Hände auf meinen Rücken und zog mich an sich. »Entspann dich, die anderen werden sicher nicht pünktlich kommen. Außerdem wird uns niemand den Kopf abreißen, wenn du zwei Minuten länger brauchst, um dich hübsch zu machen.« Er küsste mich auf die Wange und vertrieb damit jegliche Anspannung, die seit dem Morgen in meinen Knochen gesteckt hatte.

Es war das erste Mal, dass ich jemanden zu Weihnachten einlud. Deshalb war es mir wichtig, einen guten Eindruck zu machen.

»Ganz davon abgesehen, siehst du immer hübsch aus. Von mir aus könntest du auch dein mehliges Shirt anbehalten.« Enrico strich mir eine verirrte Haarsträhne hinter das Ohr und lächelte.

»Vermutlich sollte ich mich trotzdem umziehen, um unsere Gäste nicht schmutzig zu machen.« Ich zwinkerte ihm zu, beugte mich vor und gab ihm einen schnellen Kuss auf die Lippen. »Aber zuerst müssen wir den Nachtisch …«

»Keine Sorge, ich mach das schon.« Enrico wackelte mit den Augenbrauen. »Ich kann das ohnehin besser als du.«

Empört schnaubte ich auf. »Du meinst, du könntest das alte Rezept meiner Oma besser kochen als ich?«

Er zuckte mit den Schultern. »Ich habe beim Schlagen der Sahne etwas mehr Feingefühl. Wahrscheinlich liegt es daran.«

»Bitte was?« Lachend boxte ich ihn in die Seite.

»Dafür hast du dich beim Auflauf-Rezept meiner Mutter recht gut geschlagen, muss ich zugeben.« Seine Mundwinkel hoben sich zu einem schiefen Grinsen.

Kopfschüttelnd hob ich einen Zeigefinger. »Das ist eine Untertreibung. Ohne meine Hilfe hättest du die wichtigste Zutat vergessen.« Ich blickte zu der Uhr, die über Enricos Eingangstür hing, und schrie auf. »Nur noch zwanzig Minuten. Das schaffe ich nie.« Rasch küsste ich Enrico auf die Wange und dankte ihm für seine Hilfe beim Nachtisch, bevor ich die Treppe hinauf zu unserem Bad lief.

In Rekordgeschwindigkeit legte ich meine Kleidung ab und sprang unter die Dusche. Während mir das erfrischende Wasser über das Gesicht lief, dachte ich an die bevorstehende Feier. Ich hatte meine Schwester eingeladen, aber sie wollte lieber mit unseren Eltern und ihrem neuen Freund feiern, was ich absolut verstehen konnte. Stattdessen würden wir Silvester bei meiner Familie in Deutschland verbringen. Auch Lisa und Kaja hatten abgesagt. Das Baby war mittlerweile fast ein paar Monate alt, aber ich konnte mir vorstellen, dass es nicht unbedingt besinnlich war, mit einem Kleinkind eine solche Reise zu unternehmen. Auch sie würde ich nächste Woche besuchen. Eine Welle der Euphorie schoss durch meinen Körper, wenn ich daran dachte, all diese Menschen, die mir so am Herzen lagen, bald wiedersehen zu können, auch wenn es nicht heute sein würde.

Heute feierten wir hauptsächlich mit Enricos Freunden — wobei ich sie alle bereits kannte oder zumindest einmal getroffen hatte. Trotzdem pochte mein Herz schnell in meiner Brust, als ich die Dusche abstellte und mir mein Handtuch nahm. Ein rascher Blick auf mein Handy verriet mir, dass mir nur noch zehn Minuten bis zum vereinbarten Termin blieben. Vermutlich hatte Enrico recht und unsere Gäste würden sich verspäten, aber der Gedanke, selbst zu spät dran zu sein, stresste mich trotzdem.

Um mich zu beruhigen, nahm ich einen tiefen Atemzug. Enrico hatte recht, es war nichts dabei, wenn ich etwas länger brauchte. Niemand würde mir den Kopf abreißen.

Ich strubbelte meine Haare im Handtuch und schaltete dann den Föhn ein.

Seit einem halben Jahr wohnte ich nun mit Enrico zusammen. Ein halbes Jahr, das sich wie eine Ewigkeit anfühlte. Nie hätte ich gedacht, dass ich mich an einem fremden Ort weit von meiner Heimat entfernt so wohlfühlen könnte. Nie hätte ich mir ausgemalt, mich an einem Ort wie diesem mehr zu Hause zu fühlen als dort, wo ich aufgewachsen war. Und doch war es so. Jeden Tag spürte ich hier eine innere Ruhe, eine innere Zufriedenheit, die ich noch nie zuvor empfunden hatte.

Vermutlich lag das auch zu großen Teilen an Enrico, aber insgesamt fühlte ich mich, als hätte jemand den Stress, den Druck und all die Schwere von mir gehoben, seit ich in der Dominikanischen Republik angekommen war, um zu bleiben.

Wenn ich daran dachte, bald wieder nach Hause zu fliegen, freute ich mich einerseits, andererseits war ich nicht sicher, ob ich lange dort sein wollte. So viele negative Erinnerungen, so viel Schmerz verband ich mit diesem Ort, der so lange mein Zuhause gewesen war, dass mein Herz unruhig klopfte, wenn ich mir vorstellte, wieder meinen Eltern gegenüber zu stehen.

Aber diese Unsicherheit dauerte nicht lange an. Ich hatte gelernt, mit ihr umzugehen, mich nicht von ihr verschlingen zu lassen. Im Gegenteil, ich nutzte sie als Anlass, mir all die schönen Dinge in meinem Leben in Erinnerung zu rufen und daran zu wachsen. Deshalb straffte ich die Schultern und lächelte mein Spiegelbild an.

Ganz egal, was in Deutschland passieren würde, es würde mir nicht meine Stärke nehmen. Und vor allem würde es mir nicht dieses tolle Leben nehmen, das ich mir aufgebaut hatte. Mit Enrico.

Doch erst einmal war ich hier und würde ein ganz wundervolles Weihnachtsfest an diesem Ort verbringen, in den ich mich vielleicht nicht auf den ersten Blick, aber doch auf den zweiten verliebt hatte. Gemeinsam mit dem Mann, der für mich so viel mehr war als nur mein Partner. Er war mein bester Freund, meine Stütze, wenn mir alles zu viel wurde, und die Person, der ich mehr vertraute als irgendjemandem sonst.

Rasch wickelte ich mir mein Handtuch um und lief in unser Schlafzimmer, um das Kleid anzuziehen, das ich mir zurechtgelegt hatte. Die rote Farbe passte perfekt zu meinen braunen Haaren und die Schleife auf der Rückseite verlieh meinem Outfit eine festliche Note.

Lächelnd drehte ich mich vor dem großen Spiegel. Jetzt konnte Weihnachten beginnen.

In diesem Moment erklang unten die Türklingel. Sofort setzte ich mich in Bewegung, richtete mein Haar und schminkte mich noch flüchtig. Ein wenig Lippenstift, etwas Mascara, das würde reichen. Meine Haut hatte dank der vielen Sonne hier ohnehin einen schönen Teint.

Zufrieden drapierte ich meine Wellen über meinen Schultern und schenkte mir selbst im Spiegel ein letztes Lächeln, dann verließ ich das Schlafzimmer und ging die Treppe hinunter. Schon von Weitem hörte ich Enrico und Marios Stimmen durch das Wohnzimmer schallen.

»Frohe Weihnachten, Vicky!« Cleo stand am Fuß der Treppe und lächelte mich breit an. Sie trug ein kurzes grünes Kleid, das im Glanz der Lichterketten schimmerte und ihre hübsche Figur umschmeichelte. »Wo darf ich die Geschenkte hinlegen?« Im Arm hielt sie drei kleine, rot-grüne Päckchen mit Tannenbäumen darauf.

»Frohe Weihnachten.« Ich umarmte sie kurz und nahm ihr die Geschenke ab. »Am besten legen wir sie zu den anderen unter den Tannenbaum.«

»Kann ich euch noch irgendwie helfen?«

Gemeinsam gingen wir ins Wohnzimmer, wo Enrico und Mario an der Terrassentür standen und offenbar über etwas besonders Interessantes diskutierten. Mario trug seinen typischen schwarzen Anzug, dieses Mal jedoch mit einer roten Krawatte. Die hatte sicher Cleo ausgesucht.

Seit ich bei Enrico lebte, war ich den beiden schon häufig begegnet, wir hatten so einige Abende zusammen verbracht und ich war sogar ein paar Mal mit Cleo unterwegs gewesen. Deshalb waren die beiden mittlerweile fast wie Familie für mich.

»Danke, aber wir haben alles im Griff.« Ich warf Enrico von der Seite einen vielsagenden Blick zu, während ich Cleo und Marios Geschenke unter dem Baum ablegte. Auch er hatte seine Schürze offenbar schnell gegen ein helles Hemd und eine Anzughose eingetauscht. Damit wirkte er deutlich festlicher und schicker als sonst in seinen lässigen Jeans und T-Shirts. Aber er gefiel mir auch so.

»Vicky!« Mario hatte mich entdeckt und kam mit einem breiten Grinsen auf mich zu, um mich mit einer Umarmung zu begrüßen. »Du siehst traumhaft aus.«

»Danke.« Ein Lächeln zupfte an meinen Mundwinkeln und ich strich mit den Fingern über den Rock meines Kleides. »Ihr seht aber auch toll aus.«

Mario legte einen Arm um Cleos Taille und schenkte ihr ein breites Lächeln, das sie erwiderte. Sanft schmiegte sie ihren Kopf an seine Schulter. Es war mittlerweile das zweite Weihnachten, das die beiden gemeinsam feierten. Doch noch immer war die Anziehung zwischen ihnen eindeutig spürbar.

»Ich hätte es ja nicht für möglich gehalten, aber aus der Küche riecht es verdammt gut.« Mario wackelte mit den Augenbrauen und sah dabei seinen Bruder direkt an.

»Sieh es ein, sogar im Kochen bin ich besser als du.« Mit einem Grinsen lief Enrico in die Küche, vermutlich um nach dem Ofen zu sehen.

Seit sich die Geschichte mit Monica geregelt hatte, gingen die beiden anders miteinander um. Lockerer. Brüderlicher. Als hätte zuvor etwas zwischen ihnen gestanden, das nun aus dem Weg war. Als könnten sie endlich die Brüder füreinander sein, die sie einmal gewesen waren. So zumindest hatte Enrico es mir erklärt, als ich ihn danach gefragt hatte. Wenn ich die beiden zusammen sah, ging mein Herz auf und ich musste an meine eigene Schwester denken, mit der ich seit meinem Umzug regelmäßig telefonierte. Auch wir hatten viel nachzuholen.

Schmunzelnd drehte ich mich zu unseren Gästen um. »Wollt ihr etwas trinken? Wir haben Punsch, Glühwein, Säfte oder auch Whiskey.« Ich nickte in Marios Richtung, weil ich schon ahnte, welches Getränk er wählen würde.

»Ich nehme einen Punsch.« Cleos Getränkewunsch überraschte mich nicht. Marios jedoch schon.

»Für mich auch einen.«

Perplex blinzelte ich. »Da ist kein Alkohol drin.« Ich hob einen Mundwinkel. Vermutlich hatte er sich vertan. Oder er machte nur Spaß.

Doch er zwinkerte mir zu. »Ich weiß.«

Verwirrt runzelte ich die Stirn, während ich mich umdrehte und in die Küche lief, um den beiden ihre Getränke zu holen.

»Seit wann trinkt dein Bruder keinen Alkohol?«, zischte ich Enrico zu, sobald die beiden außer Hörweite waren.

Der drehte sich zu Mario und Cleo um und zuckte mit den Schultern. »Das ist mir auch neu. Vielleicht ist er schwanger.« Er lachte.

Gerade hatte ich zwei Gläser aus dem Regal genommen, um den Punsch einzuschenken, hielt jedoch mitten in der Bewegung inne. Ich riss die Augen auf. »Meinst du …«

»Dass mein Bruder schwanger ist? Ich denke nicht, dass …«

»Doch nicht er!« Meine Stimme wurde eindringlicher, und doch versuchte ich, leise zu bleiben, damit die beiden uns nicht hörten.

Wieder warf Enrico einen Blick ins Wohnzimmer hinter uns. Ich konzentrierte mich darauf, beim Einschenken nichts zu verschütten.

»Zumindest sieht man noch nichts.« Er rückte ein Stück näher und brachte seinen Mund an mein Ohr. Sein warmer Atem legte sich angenehm auf meine Haut. »Soll ich sie mal fragen?«

»Bloß nicht!« Ich hob drohend die Kelle, mit der ich gerade den Punsch auf zwei Gläser verteilt hatte. »Sie werden es uns schon sagen, wenn es so weit ist.«

Da ertönte die Türklingel ein zweites Mal. Automatisch beschleunigte sich mein Puls.

»Das müssen Alicia und Ben sein.« Enrico warf seinen Backhandschuh auf die Arbeitsfläche und eilte zur Tür.

Während er seine Freunde begrüßte, brachte ich Mario und Cleo ihren Punsch. Von Enrico wusste ich, dass Alicia nicht gut auf Mario zu sprechen war. Deshalb hofften wir, dass das Wiedersehen der beiden nicht zu Konflikten führen würde.

Dieses gemeinsame Treffen war mehr zufällig entstanden, als dass wir es geplant hätten. Ursprünglich hatten wir uns überlegt, mit Alicia und Ben zu feiern. Cleo und Mario hatten vorgehabt, nach Deutschland zu fliegen. Aber dann hatten sie spontan entschieden, doch hier in der Karibik zu bleiben. Natürlich hatten wir sie daraufhin eingeladen, Heiligabend bei uns zu verbringen. Deshalb würden wir — etwas unfreiwillig — zu sechst feiern.

Von der Tür ertönte Enricos Stimme, die sich mit denen von Ben und Alicia vermischte. Zwar arbeitete ich mit Alicia zusammen, aber seit unserer letzten Begegnung in Deutschland hatte ich sie nicht gesehen. Ich war gespannt, was sie und Ben wohl zu erzählen hatten.

»Ach was! Vicky, sieh dir das an«, rief Enrico von der Tür.

Schnell drückte ich Cleo und Mario ihren Punsch in die Hand und ging anschließend zur Tür, um die Neuankömmlinge zu begrüßen und mir anzusehen, was Enrico meinte. Der hielt mir Alicias Hand hin, als handelte es sich um eins der Geschenke. Seine Augen waren groß wie Untertassen und sein Grinsen war noch eine Spur breiter geworden. »Die beiden sind verlobt!«

Überrascht hob ich die Hand an den Mund. »Glückwunsch! Das ist ja eine tolle Neuigkeit.« Ich umarmte die beiden nacheinander und bedeutete ihnen, reinzukommen.

»Wann, wo und wie? Ich will jedes Detail wissen.« Enrico war ganz aus dem Häuschen.

Ich musste lächeln. Er war damals nicht ganz unschuldig daran gewesen, dass die beiden zusammen gekommen waren. Außerdem war Ben einer seiner engsten Freunde. Natürlich interessierte er sich für den Antrag.

Alicia lachte und warf ihre langen blonden Haare zurück. »Jetzt sei nicht so neugierig.« Wie schon das letzte Mal sah sie fantastisch aus in ihrem glitzernden Oberteil und dem kurzen, engen Rock, der ihre Beine noch länger wirken ließ, als sie es ohnehin schon waren.

»Es war in Paris«, begann Ben da bereits. Stolz und Euphorie lagen in seiner Stimme und ich ahnte, dass er nur darauf gewartet hatte, diese Geschichte zu erzählen.

Aus dem Augenwinkel sah ich Cleo und Mario neben dem Weihnachtsbaum stehen. Sie hörten offenbar zu, machten jedoch keine Anstalten, näher zu kommen. In meiner Brust kribbelte es nervös. Hoffentlich würde diese Geschichte nicht unseren Heiligabend zerstören.

»Ich habe unseren Esstisch mit roten Rosen dekoriert und von der Tür bis ins Esszimmer eine Spur aus Blütenblättern gelegt.«

Alicia verdrehte die Augen, grinste jedoch. »Er musste natürlich völlig übertreiben.« Sie schenkte Ben einen warmen Blick, der mir zeigte, dass sie trotz ihrer Worte nicht ganz unzufrieden mit der Art des Antrags gewesen war.

»Als sie von der Arbeit nach Hause kam, habe ich romantische Musik eingeschaltet und auf sie gewartet.«

»Dann hat er um meine Hand angehalten und ich habe Ja gesagt.« Sie wedelte mit dem Ring am Finger umher, ein breites Lächeln im Gesicht.

»Zum Glück hat zumindest einer von uns beiden einen Sinn für Romantik.« Ben verdrehte gespielt theatralisch die Augen, was Alicia zum Lachen brachte.

In diesem Moment ertönte neben mir die Stimme von Cleo. »Glückwunsch zu eurer Verlobung. Ich bin Cleo.« Sie hielt Alicia die Hand hin. Die drei waren sich bisher noch nicht begegnet.

»Freut mich, dich kennenzulernen.« Alicia schenkte ihr ein weiches Lächeln, das jedoch nur Augenblicke später verrutschte. »Du bist die Freundin von …« Sie hob zweifelnd die Augenbrauen und sah an Cleo vorbei in Richtung Mario, der ebenfalls näher gekommen war. Kam es mir nur so vor oder kühlte sich die Stimmung mit einem Mal merklich ab? Rasch wechselte ich einen Blick mit Enrico, der mir jedoch nur aufmunternd zunickte.

»Von mir.« Mario trat näher und hielt Alicia ebenfalls die Hand hin. Sollte es ihn beunruhigen, ihr zu begegnen, ließ er es sich zumindest nicht anmerken. Wie sonst auch wirkte er gelassen und ruhig, als könnte ihm keine noch so starke Böe etwas anhaben.

Zögerlich hob Alicia die Hand und schüttelte Marios kurz. Dann räusperte sie sich und trat einen Schritt zur Seite, damit Ben die beiden begrüßen konnte.

Das hatte doch einigermaßen gut funktioniert. Ein wenig steif hob ich die Mundwinkel und fragte die beiden, was sie trinken wollten. In der Zwischenzeit nahm Enrico Ben den Beutel ab, den er in der Hand hielt, und brachte die Geschenke zum Baum.

Während ich mich auf den Weg in die Küche machte, um die Getränke vorzubereiten — auch die beiden tranken Punsch — hörte ich, wie Cleo und Ben hinter mir ein Gespräch über Flugzeuge starteten. Cleo stand kurz davor, ihre Pilotenausbildung abzuschließen, und Ben gab ihr ein paar Tipps — zumindest klang es für mich danach.

Was wohl Alicia und Mario dachten? War ihnen die Situation so unangenehm, dass sie den Abend nicht genießen konnten? Ich biss mir auf die Unterlippe. Hoffentlich nicht.

Enrico klinkte sich in das Gespräch von Cleo und Ben ein und schon bald entfernten sich ihre Stimmen. Vermutlich hatten sie es sich im Wohnzimmer auf der Couch gemütlich gemacht. Dort saßen Enrico und ich häufig, wenn wir abends zusammen einen Film schauten.

»Du hast das Geld überwiesen, richtig?«, erklang auf einmal Alicias helle Stimme hinter mir, so leise, dass die anderen sie sicher nicht hören konnten.

Ich erstarrte, die Kelle noch immer in der Luft, um das letzte Glas zu füllen. Wovon sprach Alicia? Redete sie mit Mario? Um welches Geld ging es? Mein Herz pochte einen Takt schneller.

»Das reicht vermutlich nicht, um wiedergutzumachen, was damals passiert ist.« War das wirklich Marios Stimme? Er klang beinahe geknickt oder — beschämt? Enrico hatte mir nie im Detail gesagt, was damals zwischen den beiden vorgefallen war, aber offenbar war Mario das Thema unangenehm.

Wussten die beiden, dass ich sie hören konnte? Belauschte ich sie gerade? War das okay? Vermutlich nicht, aber ich wollte ihr Gespräch auch nicht unterbrechen, indem ich mich bemerkbar machte. Unsicher spielte ich mit dem Griff der Kelle herum und hoffte, dass sie nicht bemerkten, dass ich in meiner Arbeit innehielt.

»Vermutlich.« Alicias Stimme klang kühl, reserviert. »Aber es ist ein Anfang. Ein Anfang mit verdammt vielen Nullen. Also …« Sie räusperte sich. »Danke.«

Alicias Absätze klackerten auf dem Parkett, als sie sich entfernte.

Erleichtert atmete ich auf. Nichts Schlimmes war passiert. Alles war gut und niemand hatte bemerkt, dass ich heimlich …

Eine Hand legte sich auf meinen Unterarm und instinktiv zuckte ich zusammen. Beinahe hätte ich vor Schreck ein Glas Punsch umgeworfen, als ich herumfuhr.

Mario stand neben mir, sein gewohntes Lächeln auf den Lippen, doch seine Augen wirkten nicht ganz so leicht und sorgenfrei wie sonst. »Erzähl Enrico bitte nichts davon.«

Wovon? Von dem Geld, das er Alicia — oder ihrer Firma? — offenbar geschickt hatte? Alicia leitete ein Umweltschutzprojekt. Also hatte er vielleicht eine große Spende für sie eingereicht? Das würde Sinn ergeben. Zumindest lichtete sich der Nebel, der für mich über dieser Sache lag, ein wenig.

»Okay.« Ich lächelte und verkniff mir die Fragen, die mir auf der Zunge lagen. Das war nicht der richtige Zeitpunkt, um alte Geschichten aufzurollen. Heute sollten wir gemeinsam feiern. Deshalb schnappte ich mir die beiden Gläser und brachte sie ins Wohnzimmer, wo die anderen drei noch immer über Flugzeuge sprachen — Alicia weniger euphorisch als Ben und Cleo, aber das schien ihr nichts auszumachen. Sie plauderte gelassen mit den anderen und lachte mit ihnen. Alle schienen fröhlich und entspannt, selbst Mario, der sich nach einer Weile ins Gespräch einbrachte. Alicia wirkte ihm gegenüber nicht mehr ganz so feindlich wie zuvor. Gab sie ihm vielleicht noch eine Chance?

Ich sah zu Enrico. Seine dunklen, warmen Augen leuchteten geradezu, wenn er mit Ben und Cleo über das Fliegen sprach. Aber auch wenn er mit seinem Bruder oder Alicia witzelte. Seine Stimme überschlug sich beinahe und er wedelte wie wild mit den Händen. Dabei lachte er so herzhaft, dass es mir einen wohligen Schauer über den Rücken jagte.

Ich dachte an den Tag, als er mir zum ersten Mal gesagt hatte, was ich ihm bedeutete. Da hatten seine Augen genauso geleuchtet. Das taten sie bis heute, wenn er mich so intensiv ansah und mir sagte, dass er mich liebte. Mein Herz füllte sich mit Wärme, wenn ich daran dachte, wie weit wir gekommen waren. Wie sehr sich mein Leben in all der Zeit verändert hatte — zum Besseren.

Wenn ich nun morgens aufstand, war da keine Schwere, die mich herunterzudrücken drohte. Keine Unsicherheit, die mich von innen zerfraß, weil ich nicht wusste, wie mein Tag verlaufen würde. Stattdessen hatte mein Leben eine Leichtigkeit, die ich damals nicht für möglich gehalten hätte. Ich lachte mehr, wagte mehr und endlich folgte ich meinem Herzen. Ich vertraute darauf, dass es mich leiten würde, wohin mich meine Reise auch führen mochte. Und ich wusste, dass Enrico bei mir sein würde. Egal, was passierte.

In Gedanken versunken ließ ich meinen Blick zum Fenster gleiten, das von dem riesigen leuchtenden Weihnachtsbaum beinahe gänzlich verdeckt wurde. Draußen war es mittlerweile dunkel und die ersten Sterne waren zu sehen. Die Weihnachtsmusik, die im Hintergrund lief, drang nur gedämpft an meine Ohren. Genauso das Gespräch der anderen, während ich die Endlosigkeit des Nachthimmels bewunderte.

Einmal war Enrico mit mir im Dunkeln geflogen. Er hatte es mir zeigen wollen, diese einzigartige Ruhe, die vielen Lichter und die besondere Atmosphäre, wenn das Flugzeug ruhig durch den nächtlichen Himmel schwebte. Und entgegen all meinen Erwartungen hatte ich es geliebt.

Wenn jetzt eine Sternschnuppe vor meinen Augen vom Himmel gefallen wäre, hätte ich mir gewünscht, dass dieser Moment ewig andauern würde. Nicht nur dieser Moment, sondern unser ganzes Leben. Alles, was ich hier gewonnen hatte, all die Liebe, die in mein Leben getreten war, all die Freude, die ich sonst nie empfunden hätte.

Damals, als ich meine Reise in die Karibik angetreten hatte, hatte ich nicht ahnen können, wie dieser Schritt mein Leben verändern würde. Und doch hatte ich all das gebraucht, um dorthin zu gelangen, wo ich heute war. Um anzukommen. Um glücklich zu sein. Und wirklich ich selbst.

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Falls du Band 1 noch nicht kennst, ist die Geschichte von Alicia und Ben genau das Richtige für dich. In „Gefühle mit Gegenwind“ triffst du auf einige bekannte Charaktere und erfährst, wie alles begonnen hat …

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